Von Liu Yiming
(18. Jahrhundert)

Aus Dem Chinesischen Übersetzt Benjamin Witt

flusskarteDie Flusskarte: das sind die Fünf Wandlungsphasen in ihrer natürlich fließenden Bewegung[1]; es ist der natürliche Weg des absichtslosen Tuns[2]. Zur Zeit von Fuxi begab es sich, dass ein Drachenpferd aus dem Mengfluss auftauchte. Auf seinem Rücken hatte es Punkte: vorne zwei und sieben; hinten eins und sechs; links drei und acht; rechts vier und neun; fünf und zehn waren in der Mitte. Deren Plätze stellen die Fünf-symbolischen Erscheinungsformen und Fünf-Wandlungsphasen dar: hinten eins und sechs symbolisieren den Norden, die Himmelsstämme ren und gui, sowie die Wandlungsphase Wasser; vorne zwei und sieben symbolisieren den Süden, die Himmelsstämme bing und ding, sowie die Wandlungsphase Feuer; drei und acht auf der linken Seite symbolisieren Osten, die Himmelsstämme jia und yi, sowie die Wandlungsphase Holz; vier und neun auf der rechten Seite symbolisieren den Westen, die Himmelsstämme geng und xin, sowie die Wandlungsphase Metall; fünf und zehn in der Mitte symbolisieren das Zentrum, die Himmelsstämme wu und ji, sowie die Wandlungsphase Erde. Die fünf Punkte in der Mitte symbolisieren auch das Taiji, welches die Vier Erscheinungsformen in sich birgt. Der Punkt in der Mitte symbolisiert auch das Taiji, welches das Eine-Qi in sich trägt. Obwohl es 55 Punkte sind, so sind es in Wahrheit nur zweimal fünf Punkte; zweimal fünf sind in Wahrheit nur eine fünf; und die eine Fünf ist stets die Eins in der Mitte. Da es aber Fünf-Wandlungsphasen sind, so teilt es sich in fünf Punkte; da die Fünf-Wandlungsphasen Yin und Yang haben, so werden daraus zehn Punkte; da jede der Fünf-Wandlungsphasen je ein Yin und ein Yang haben, so werden daraus 55 Punkte.

In den überlieferten Kommentaren des Konfuzius zum Yijing heißt es: „Der Himmel: Eins; die Erde: Zwei; der Himmel: Drei; die Erde: Vier; der Himmel: Fünf; die Erde: Sechs; der Himmel: Sieben; die Erde: Acht; der Himmel: Neun; die Erde: Zehn.“[3] Damit ist wohl der Weg der Schöpfung und Wandlung von Himmel und Erde gemeint, der in Wirklichkeit nichts anderes ist, als einmal die fünf Yin-Wandlungsphasen, und einmal die fünf Yang-Wandlungsphasen; nichts anderes als ein Werden[4] und ein Vollenden. Obwohl es sich in fünf Wandlungsphasen teilt, so sind es in Wirklichkeit ein Yin und ein Yang das sie bewegt; und obwohl es ein Yin und ein Yang sind, das sie bewegt, so ist es in Wirklichkeit die Eine-Energie[5] kommend und gehend, welches alles bewegt.

Daher ihre Erscheinungen: Die Wandlungsphase Erde bringt die Wandlungsphase Metall hervor; die Wandlungsphase Metall bringt die Wandlungsphase Wasser hervor; die Wandlungsphase Wasser bringt die Wandlungsphase Holz hervor; die Wandlungsphase Holz bringt die Wandlungsphase Feuer hervor; die Wandlungsphase Feuer bringt die Wandlungsphase Erde hervor; die Wandlungsphase Erde bringt wieder die Wandlungsphase Metall hervor. Aus der Mitte heraus beginnt es; aus der Mitte heraus endet es. Das Beginnen und Enden ist nichts anderes als die Eine-Energie; nichts anderes als die Eine-Mitte. Die Mitte: sie ist die große Wurzel von allem, was unter dem Himmel ist: so, wie die Wandlungsphase Erde, die in der Mitte weilt und die Vier Erscheinungsformen in Harmonie zusammenhält.

Die Harmonie: sie ist die Vollendung von allem, was unter dem Himmel ist: so wie die Vier Erscheinungsformen außen herum, die wie die Eine-Energie stetig am fließen sind. Mitte und Harmonie[6], die Eine-Energie: immer ist es das Taiji.

Allein der Mensch[7] nun hält die Kräfte von Himmel und Erde, Yin und Yang sowie die Fünf Wandlungsphasen in sich und wird in einem Körper geboren. Im Körper nun sind diese Kräfte von Yin und Yang sowie den Fünf-Wandlungsphasen angelegt. Aber diese Fünf Wandlungsphasen erscheinen als Vor-himmlisch und als Nach-himmlisch. Die Vor-himmlischen Fünf Wandlungsphasen sind dem Yang zugeordnet; die Nach-himmlischen Fünf Wandlungsphasen sind dem Yin zugeordnet. Eins-drei-fünf-sieben- und neun sind die fünf Yang-Wandlungsphasen des Vor-himmlischen; zwei-vier-sechs-acht- und zehn sind die fünf Yin-Wandlungsphasen des Nach-himmlischen.

Auf das Vor-himmlische nun bezogen, ist die Eins die ursprüngliche Essenz (yuanjing) und dem Wasser zugeordnet, dem Wasser des Himmelsstammes ren; die Drei ist die ursprüngliche Wesensnatur[8] und dem Holz zugeordnet, dem Holz des Himmelsstammes jia; die Fünf ist die ursprüngliche Energie und der Erde zugeordnet, der Erde des Himmelsstammes wu; die Sieben ist der ursprüngliche Geist und dem Feuer zugeordnet, dem Feuer des Himmelsstammes bing; die neun ist das ursprüngliche Gefühl und dem Metall zugeordnet, dem Metall des Himmelsstammes geng. Dies waren die Fünf-Ursprünge. Sind die Fünf-Ursprünge ganz vorhanden, so sind darin die Fünf-Tugenden schon angelegt.

Die Fünf-Tugenden sind: Mitgefühl/Güte, Gerechtigkeit, Sitte, Weisheit und Zuversicht[9]. Die ursprüngliche Essenz: das ist die Essenz der Essenzlos-igkeit; ihre Substanz ist von Reinheit und Unverfälschtheit; sie tritt als Weisheit in Erscheinung. Der ursprüngliche Geist: das ist der Geist der Geistlos-igkeit; seine Substanz ist von kreisrunder Fülle und Durchlässigkeit; er tritt als Sitte in Erscheinung. Die ursprüngliche Wesensnatur: das ist die Wesensnatur der Wesenslos- und Naturlos-igkeit; seine Substanz ist von Weichheit und Güte; sie tritt als Mitgefühl/Güte in Erscheinung. Das ursprüngliche Gefühl: das ist das Gefühl der Gefühlslos-igkeit; seine Substanz ist von Härte und Korrektheit[10]; sie tritt als Gerechtigkeit in Erscheinung. Die ursprüngliche Energie: das ist die Energie der Energielos-igkeit; ihre Substanz ist reine Einheit; sie tritt als Glaube in Erscheinung. Die Fünf Ursprünge: das ist die Kraft der Fünf Wandlungsphasen. Die Fünf Tugenden: das ist das Wesen der Fünf Wandlungsphasen.

Die Fünf Ursprünge und Fünf Tugenden entstehen im Vor-himmlischen und liegen verborgen im Nach-himmlischen. Der Mensch, noch im Mutterleibe, befindet sich in einem Zustand von Chaos und Formlosigkeit; die Eine-Energie, ungeteilt Eins; seine Form ist noch nicht in Erscheinung getreten, seine Ordnungsprinzip ist jedoch schon vorhanden. Das ist mit noch nicht geboren gemeint: so wie die Fünf in der Mitte der Karte: die fünf Punkte sind alle auf einen Platz hin zusammengeordnet. Das ist das Symbol des Taiji. Die (weisen) Menschen aus früheren Zeiten erzogen[11] ihre Mitmenschen darin, nach dem Angesicht zu streben, bevor man von Vater und Mutter geboren wurde. Das ist genau damit gemeint. Da dies ist, bevor man mit einem Körper geboren wird, wird es Vor-himmlisch genannt.

Auf das Nach-himmlische nun bezogen, ist die Zwei der unterscheidende Geist, welcher dem Feuer zugeordnet ist, dem Feuer des Himmelsstammes ding; die Vier ist die Körperseele[12], welche dem Metall zugeordnet ist, dem Metall des Himmelsstammes xin; die Sechs ist die trübe Essenz, welche dem Wasser zugeordnet ist, dem Wasser des Himmelsstammes gui; die Acht ist die Geistseele[13], welche dem Holz zugeordnet ist, dem Holz des Himmelsstammes yi; die Zehn ist die unbesonnene Absicht, welche der Erde zugeordnet ist, der Erde des Himmelsstammes ji. Dies waren die Fünf Dinge. Sind die Fünf-Dinge nun ganz vorhanden, so sind darin die Fünf-Diebe schon angelegt.

Die Fünf Diebe: das sind Zuneigung, Zorn, Trauer, Spaß/Freude und Begierde. Die Geistseele regiert über das Leben. Ihrem Wesen nach ist sie gut. Wird sie erregt, so entsteht in ihr Zuneigung. Die Körperseele regiert über den Tod. Ihrem Wesen nach ist sie schlecht/böse. Wird sie erregt, so entsteht in ihr Zorn. Der unterscheidende Geist ist äußerst gewandt und schlau. Seinem Wesen nach ist er raffgierig. Wird er erregt, so entsteht in ihm Spaß/Freude. Die trübe Essenz ist äußerst unstet/flüchtig. Ihrem Wesen nach ist sie töricht. Wird sie erregt, so entsteht in ihr Leid. Die unbesonnene Absicht ist äußerst bewegungsfreudig. Ihrem Wesen nach ist sie in Unordnung. Wird sie erregt, so entsteht in ihr Begierde.

Unter den Nach-himmlischen Fünf Dingen und Fünf Dieben muss aber, obwohl sie aus den Fünf-Wandlungsphasen entstanden sind, trotzdem unterschieden werden. Unter den Fünf Dingen sind die Essenz, der Geist und die Absicht alle erst später aufgekommen. Allein Geist- und Körperseele waren zuallererst. Die Geistseele sogar noch früher als die Körperseele.

Die Geistseele: das ist der Samen, der das sich immerdrehende Samsara bewirkt. Wird man als Mensch geboren oder als Geist, hängt von ihr ab; wird man als Heiliger oder Tugendhafter geboren, hängt von ihr ab; wird man als guter oder schlechter geboren, hängt auch von ihr ab; trägt man ein Fell oder Hörner, ist auch von ihr abhängig. Wenn der Leib noch nicht geboren ist, kommt sie zuerst und wenn der Lebensatem noch nicht ganz versiegt ist, so verlässt sie den Leib zuerst.

Wenn der Mensch die Fruchtblase durchstößt und mit dem Kopf herauskommt, so stößt das Neugeborene einen Schrei von sich. Das ist der Zeitpunkt wo die Seele (Geist-) in die Öffnung eintritt. Sobald die Seele eingetreten ist in die Öffnung, steht sie unter dem Einfluss der Nach-himmlischen Holzenergie und vermischt sich mit der Vor-himmlischen ursprünglichen Wesensnatur: so existiert das Unechte in Anlehnung an das Echte. Deswegen ist das Neugeborene, wenn es ohne Schrei zu Boden fällt, noch nicht vollendet, da die Geistseele nicht eingetreten ist. Obwohl es eine ursprüngliche Wesensnatur hat, so kann diese doch nicht unabhängig (von ihrer konkreten Seite) existieren. Das Unechte braucht das Echte, um existieren zu können; aber das Echte braucht auch das Unechte, um verweilen zu können.[14]

Was nun die Körper-Seele angeht, so braucht sie die Lebendigkeit der Blutenergie, um sich unter dem Einfluss der Metallenergie zu verdichten und fest zu werden. 49 Tage nach der Geburt ist sie erst vollendet; 49 Tage nach dem Tod ist sie erst ganz verlöscht. Die allgemein verbreitete Sitte, was Verstorbene angeht, einen Zeitraum von 49 Tagen abzuwarten, ist genau deswegen. Die Wander-Seele als Ding an sich ist ständig am Umherziehen, ohne festen Platz. Sie verlässt diesen Ort und begibt sich an jenen; verlässt jenen Ort und kommt an diesen: ein ewiges Kreisen, von Zeitalter zu Zeitalter, ohne kaputtzugehen. Die Körper-Seele jedoch folgt dem Leib und ist, oder ist nicht vorhanden.

Der unterscheidende Geist kommt auch (erst später), obwohl er unter dem Einfluss der Feuerenergie entsteht, aus der Geistseele hervor. Die trübe Essenz wird auch, obwohl sie unter dem Einfluss der Wasserenergie entsteht, von der Körper-Seele kontrolliert. Die Absicht, das sind die Bewegungen des Denkens. Es ist das, womit die vier Dinge Essenz, Geist, Geistseele und Körperseele zum Frondienst angehalten sind. Die Fünf Dinge und Fünf Diebe sind erst vorhanden, nachdem der Leib geboren ist. Das ist damit gemeint, schon geboren zu sein. Da dies nach der Geburt des Leibes ist, wird es als Nach-himmlisch bezeichnet. Was die Organe Herz, Leber, Milz, Lunge und Nieren angeht, so sind sie trübe und haben eine Form und werden hier nicht weiter ausgeführt.

Zu Beginn eines Lebens werden die Nach-himmlischen Fünf Wandlungsphasen und die Vor-himmlischen Fünf Wandlungsphasen nun zu Einem. Die Fünf Dinge werden von den Fünf Ursprüngen regiert und die Fünf Diebe werden von den Fünf Tugenden in Zaum gehalten. Jede Bewegung und jede Regung wird vom Vor-himmlischen koordiniert. Das Nach-himmlische fungiert lediglich als Diener. Deswegen ist das Neugeborene, zu der Zeit da es noch ohne Unterscheidung und ohne Wissen ist, vollkommen gut und ohne Schlechtes; das ist die Vollkommenheit von Mitgefühl/Güte; Mitgefühl/Güte ist die Manifestation der ursprünglichen Wesensnatur. Sind die beiden Vorstellungen von „Ich“ und „Gegenüber“ vergessen, bedeutet das die Vollkommenheit von Gerechtigkeit; die Gerechtigkeit ist die Manifestation des ursprünglichen Gefühls. Wenn man von wohlklingenden Tönen und schönen Formen nicht mehr in die Irre geführt wird, dann ist das die Vollkommenheit von Weisheit; Weisheit ist die Manifestation der ursprünglichen Essenz. Wenn die Energie des Herzens in Ruhe und Harmonie ist, dann ist das die Vollkommenheit von Sitte; Sitte ist die Manifestation des ursprünglichen Geistes. Ungeteilte Aufrichtigkeit ohne Zweideutigkeit, das ist die Vollkommenheit der Zuversicht; Zuversicht ist die Manifestation der ursprünglichen Energie. In Ruhe sind es die Fünf Ursprünge, in Bewegung werden daraus die Fünf Tugenden. Sind Ruhe und Bewegung ganz vom Vor-himmlischen veranlasst und koordiniert, so gehen die Spuren von Zuneigung, Zorn, Trauer und Freude/Spaß alle aus der reinen Absichtslosigkeit des Herzen hervor: die Zuneigung verweilt nicht; der Zorn wird nicht auf andere übertragen; Trauer verletzt nicht und Freude ist nicht unzüchtig. Sind Zuneigung, Zorn, Trauer und Freude/Spaß noch nicht zum Ausdruck gekommen, so nennt man das Mitte; kommen sie stets in Maß und Mitte zum Ausdruck, so nennt man das Harmonie. Mitte und Harmonie, das ist mit Leidenschaftslosigkeit gemeint. Ist man ohne Begierde, so sind Essenz (Trübe-), Geist (Unterscheidender-), Körperseele, Geistseele und Absicht (unbesonne) alle in Ruhe und Frieden an ihrem für sie vorgesehenen Platz und hören auf die Anweisungen des Vor-himmlischen.

Wenn Vor-himmlisches und Nach-himmlisches, Yin und Yang sich kreuzen, dann verbinden sich die beiden Fünf auf wunderbare Weise und verdichten sich. Dann bewegt sich entweder das Vor-himmlische und das Nach-himmlische kommt zu seiner Erfüllung; oder das Nach-himmlische bewegt sich und das Vor-himmlische kommt so zu seiner Erfüllung. Das Echte entfernt sich nicht vom Unechten, und das Unechte entfernt sich nicht vom Echten; das Echte ist angewiesen auf das Unechte um vollständig zu sein, und das Unechte ist angewiesen auf das Echte um existieren zu können. Das Ganze ist durch und durch die Eine-Energie, ohne Schaden und ohne Verlust, ausgefüllt und rundum makellos: so, wie das Symbol der Fünf Wandlungsphasen in der Karte: Yin und Yang jeweils gemeinsam vereint auf einem Platz und die Eine-Energie kann frei und natürlich fließen.[15] Die (weisen) Menschen früherer Zeiten lehrten ihre Mitmenschen, nach dem Angesicht bei der Geburt aus dem Mutterleibe zu streben. Das ist genau hierin zu finden.

Bis zum Alter, wo die zweimal acht[16] voll sind. Dann ist die Vor-himmlische Energie ganz ausgereift; das Yang ist an seinem äußersten Punkt angelangt, und das Yin beginnt, im Verborgenen zu entstehen und sich mit dem Nach-himmlischen zu kreuzen. Daraufhin werden Geist- und Körperseele unruhig, der unterscheidende Geist wird aktiv, die Essenzpforte öffnet sich, die Absichten geraten in Unordnung, und das Herz verliert seine Orientierung; die Fünf Dinge beginnen, zusammen aufzubegehren und die Fünf Diebe unterminieren und ruinieren sich gegenseitig. Die Fünf Ursprünge und Fünf Tugenden werden alle einer nach dem anderen ausgeplündert. So vergehen Tag um Tag und Jahr um Jahr, bis die Yin-Energie rein ist und die Yang-Energie am Ende ist. Kann da noch anderes eintreten als der Tod?

Allein die Heiligen Menschen haben das Wissen um das Vor-himmlische und sind in der Lage, das Yang zu wahren, wenn das Vor-himmlische noch nicht an seinem äußersten Punkt angelangt ist, und verstehen es, das Yin zu dem Zeitpunkt zurückzubewegen, wenn das Nach-himmlische beginnt zu entstehen. Sie nähren und pflegen das Vor-himmlische gestützt auf das Nach-himmlische und verwandeln das Nach-himmlische durch das Vor-himmlische. So beschreiten sie den Weg des absichtslosen Tuns und treten direkt ein auf das heilige Fundament

Der Weg des absichtslosen Tuns ist nun nichts anderes als die wunderbare Ordnung der Flusskarte: In der Flusskarte nun entstehen aus der Mitte heraus Yin und Yang, sowie die Fünf Wandlungsphasen, welches der natürliche Fluss der Dinge ist, in dem der Mensch geboren wird. Wenn nun die Fünf Wandlungsphasen der Flusskarte, Yin und Yang sich zusammenfügen und wie die Eine-Energie rundum eins werden, dann ist das die Rückläufige Bewegung, in der der Heilige geboren wird. Die Rückläufige Bewegung ist nicht etwa ein Zurückgehen, sondern nichts anderes als die Kräfte der Fünf Wandlungsphasen in ihrer Entgegengesetzten Richtung[17] zurückzuführen und in die Gelbe Mitte, das Taiji, heimzuführen, um wieder das Angesicht zu erblicken das man vor der Geburt von Vater und Mutter hatte.

Bei Mengzi heißt es: „Mitgefühl/Güte, Gerechtigkeit, Sitte und Weisheit haben ihre Wurzel im Herzen. Wenn sie (im Körper des Menschen) zum Ausdruck kommen, dann zeigen sie sich als leuchtende Ausstrahlung im Gesicht, überströmen den Rücken und breiten sich über die vier Gliedmaßen aus.“ Die vier Gliedmaßen können ohne weitere Erläuterung verstanden werden. Mit dem Herzen ist wohl gemeint, dass es als Regent über den gesamten Leib die Tugenden Mitgefühl/Güte, Gerechtigkeit, Sitte und Weisheit in sich trägt; als das Eine Herz Mitgefühl/Güte, Gerechtigkeit, Sitte und Weisheit bewegt und so der reinen Natürlichkeit des Himmels entspricht. Die Fünf Dinge und Fünf Diebe hören alle gehorsam auf dessen Anweisungen; die Fünf Wandlungsphasen sind gesammelt; die vier Symbolischen-Erscheinungsformen in Harmonie geeint: die Wesens-Natur ist ununterschieden von der Bestimmung, und die Bestimmung ist ununterschieden von der Wesens-Natur. Wesens-Natur und Bestimmung sind so geeint zu einer Familie; Yin und Yang haben sich in ihrer Vermischung gewandelt, und Gestalt und Geist sind beide auf wunderbare Weise mit dem Dao zur Wahrheit geeint. Die Sinnesorgane (in Beziehung) zum Herzen und Geburt (in Beziehung) zu Materie kann so ohne weitere Erläuterung verstanden werden, da alles ganz natürlich so ist so ist wie es ist.

Aber dieses Herz ist nicht etwa das dumpfe Herz von einem Klumpen Fleisch, sondern das Herz von Himmel und Erde: das, was mit „die Fünf Wandlungsphasen erreichen es nicht“ und „unberührt von den Vier Großen Elementen“ und das so genannte „Tor der Ursprünglichen-Gebärerin“ gemeint ist. Es ist ohne Richtung, ohne Ort und ohne festen Platz; versucht man, es nachzuahmen, so verliert man es; diskutiert man es, so hat man es schon verfehlt; man kann es nicht durch Worte übermitteln und man kann seine Gestalt nicht niederschreiben. Öffnen und Schließen hat seine Zeit; Ruhe und Bewegung sind frei und ungezwungen; weder ist es einseitig noch in Anlehnung (an etwas). Es ist äußerste Leere und äußerste Lebendigkeit. Es ist das, was man notfalls ‚Taiji’ nennen könnte, was man notfalls mit diesem „O“[18] ummalen könnte. Dies ist (die Bedeutung des) einen Punktes in der Mitte der Flusskarte. Da dieses eine Herz nun die Wurzel von Himmel und Erde ist, der Ursprung von Wesensnatur und Bestimmung ist, haben große Erleuchtete späterer Zeiten es notgedrungen mit einem Doppelkreis dargestellt, auf dass die Menschen von selbst erwachen und seiner gewahr werden, ihm vom Geiste her begegnen.

Dieses Herz nun, es ist so groß, dass es kein Außen hat und so klein, dass es kein Innen hat. Alle Welten die es gibt vermögen es nicht zu fassen; die 5418 Bände des Buddhistischen Kanons sind außerstande es zu umschreiben; die Sechs-Klasiker und Vier-Bücher der Konfuzianer sind nicht im Stande es zu erörtern und all die Klassiker der Alchemie und Meister der Daoisten schaffen es nicht es hinreichend zu beschreiben. Möchte man von seiner Nichtexistenz reden, so ist es doch ganz lebendig; möchte man von seiner Existenz reden, so ist es doch nur ganz vage und kaum auszumachen; Geschaffenes und Ungeschaffenes haben keinen Halt mehr, und Ruhe und Bewegung sind ganz unbefangen. Wenn man dieses Herz besitzt, dann verlässt man den Tod und betritt das Leben; verliert man dieses Herz, so verlässt man das Leben und betritt den Tod. Leben oder Tod, beides hängt vom Erreichen und Verlieren dieses Herzens ab.

Mitgefühl/Güte, Gerechtigkeit, Sitte und Weisheit gehen aus diesem Herzen hervor und sind in diesem Herzen verwurzelt. Im Inneren dieses Herzens befindet sich die Energie der Fünf Wandlungsphasen, aber ohne deren konkrete Eigenschaften; es ist verborgen inmitten der Fünf Wandlungsphasen, doch ohne in deren Lauf zu geraten; es hat seinen Ursprung vor der Geburt durch Vater und Mutter und erscheint, nachdem man von Vater und Mutter geboren ist: ganz still und unbewegt, ist es (im Augenblick) der Berührung doch frei offen dafür[19]. Deswegen regiert es über die Tugenden Mitgefühl/Güte, Gerechtigkeit, Sitte und Weisheit.

Mitgefühl/Güte, Gerechtigkeit, Sitte und Weisheit sind alle die verschiedenen Wandlungen dieses Herzens. Da es in der Lage ist Mitgefühl/Güte, Gerechtigkeit, Sitte und Weisheit zu wandeln, wird es auch als Glaube bezeichnet. Dieser Glaube, das ist jedoch nicht der oberflächliche Glaube von Wort und Rede, sondern die Vereinigung von Yin und Yang; der wahre und echte Glaube, ohne jeglichen Widersinn. Wahr und Echt: das ist das wunderbare Sein. Ohne Widersinn: das ist die wahre Leere. Leer und doch nicht leer; nicht leer und doch leer: Mitgefühl/Güte, Gerechtigkeit, Sitte und Weisheit sind alle darin enthalten.

Diese Sache des absichtslosen Tuns nun besteht darin, durch diese Ordnung[20] den Leib zu vollenden. Durch diese Ordnung den Leib zu vollenden ist nun genau das, dass Mitgefühl/Güte, Gerechtigkeit, Sitte und Weisheit durch den Glauben zusammengehalten werden; das nun ist nichts anderes als das man mit Mitgefühl/Güte, Gerechtigkeit, Sitte und Weisheit zu dem Einen Glauben zurückkehrt; und das wiederum ist genau das, wenn Mitgefühl/Güte, Gerechtigkeit, Sitte und Weisheit zu der Einen Mitte zurückkehren. Der Glauben, das Herz, die Mitte: es ist immer die Eine Energie. Ist die Eine Energie natürlich am fließen, dann verdichten sich die Fünf Ursprünge und Fünf Tugenden fest zusammen und sind nicht mehr zerstreut: ganz und gar Taiji; ohne Leck und ohne Loch. Die Nach-himmlischen Fünf Dinge und Fünf Diebe haben sich so alle zum Yang hin aufgelöst und die Vor-himmlischen Kräfte und die Nach-himmlische Kräfte sind zu einem geworden. Bringt man seine Wesensnatur zur Vollendung so wird damit auch seine Bestimmung zur Vollendung gebracht. Über den Weg der höchsten Tugend des absichtslosen Tuns und die Ordnung der Flusskarte ist damit alles gesagt worden.

© 2009 Benjamin Witt

Zweites Kapitel, A Die Aufzeichung vom Luofluss, ist für Mitglieder verfügbar

dec

Endnoten

[1] Entsprechend dem Lauf der Gestirne, im Uhrzeigesinn.

[2] wuwei: ohne Machen, ohne Tun. Es meint keineswegs ein passives Nichtstun, sondern verlangt vom Menschen ein Tun im Sinne der Schöpfungsordnung (des Dao); ein Tun, aus dem Verständnis heraus, dass der Mensch zwischen Himmel und Erde ein Teil der Schöpfung ist, ein Ge-schöpf ist, und sich deshalb in die von Himmel und Erde vorgegebene Ordnung einfügen sollte. In diesem absichtslosen Mit-tun mit den und aus den (ursprünglichen) Kräften (De, Tugendkräfte) der Schöpfung, kommt der Mensch in Harmonie mit sich selbst und seiner Umwelt.

[3] Vgl. Richard Wilhelm: I Ging. Das Buch der Wandlungen. Diederichs, 1967. S. 285

[4] wörtlich: gebären. Alt.: in Erscheinung treten

[5]Energie: Qi. Hier, und in den folgenden Texten dieser Übersetzung werden die beiden Worte „Energie“ und „Kraft“ synonym verwendet. Kraft in der Bedeutung von ‚bewegender Kraft’, ‚Lebenskraft’. Oftmals erschien mir der Begriff Kraft in seiner Bedeutung viel weiter als der Begriff Energie, der (die Energie) sich gerade im Kontext Daoistischer Lehren und Praktiken oft dahin gewandelt hat, dass es ein sehr eingeschränktes Verständnis von Energien ist, welcher man sich durch bestimmte Techniken und Praktiken bemächtigen kann. Nichts wäre Liu Yiming, unserem Autor des Textes, ferner als solche Vorstellungen.

[6] Mitte und Harmonie: Zhonghe. Zwei Schlüsselbegriffe aus dem Konfuzianischen Klassiker über Maß und Mitte. In: Richard Wilhelm: LI GI, Das Buch der Riten, Sitten und Bräuche. Diederichs, 1997; S. 27)

[7] Allein der Mensch: Diese Kräfte sind die weiter unten beschriebenen Erscheinungen der Fünf Wandlungsphasen: die Fünf Ursprünge und die Fünf Tugenden, sowie deren ambivalente Erscheinung als Fünf Dinge und Fünf Diebe. Deren Erscheinungen sind das, was den Menschen zum Mensch macht und ihn so von allem anderen in der schöpfung abhebt. Deswegen wird der Mensch im chinesischen Verständnis zusammen mit Himmel und Erde als „Drei Sprossen/Drei Keime“ (Sancai) bezeichnet. Der Mensch, als Krone der Schöpfung, steht im wahrsten Sinne des Wortes im Zentrum (Mitte) der Schöpfung. Fügt er sich mit seinen ihm verliehenen Kräften in die Kräfte der Schöpfungsordnung ein, so wird er zum Kreuzungspunkt der Kräfte des Himmels und der Erde, und die Kräfte des Himmels und der Erde können sich frei in Ihm entfalten. Dabei werden die Kräfte, wie sie sich als Schöpfungsordnung (schöpferische-Ordnung: d.h. es ist etwas äußerst Lebendiges. Nicht etwas fertig vorgefundenes) durch Himmel und Erde manifestieren, als Dao bezeichnet. Im Menschen nun, in dem diese Kräfte angelegt sind, sozusagen die dem Menschen vom Himmel ursprünglich zugedachte (das was mit dem Begriff Bestimmung weiter unten noch eingeführt wird) Schöpfungsordnung, werden sie als De (Tugend) bezeichnet. Die Tugendkräfte des Menschen sind also die Kräfte des Dao, wie sie sich durch den Menschen manifestieren. Ein und dasselbe wird, wenn auf das Große, auf Himmel und Erde bezogen, als Dao bezeichnet, auf das Kleine, den Menschen bezogen, als De bezeichnet. Stets ist es, wie Liu Yiming immer wieder betont, aber nur die Eine-Kraft, die Eine-Energie, die in allem und durch alles wirkt.

[8] Ich habe die Übersetzung Wesens-Natur gewählt, da im chinesischen das Zeichen aus zwei Teilen zusammengesetzt ist, wodurch es auf die ambivalente Zweiheit im Menschen hinweist, die aber im ursprünglichen Sinne ein Einheit ist: die physiologische sowie die psychologische Seite. Ist der Mensch gesund (heil – heilig), so funktionieren beide Teile des Menschen gemäß ihrer ursprünglichen Bestimmung (ming) des Himmels harmonisch miteinander. Wesensnatur (Mensch) und Bestimmung (Himmel) sind dann Eins, und obwohl als Zwei erscheinend, so doch als Eine Einheit wirkend. Fallen aber beide Teile auseinander, so erfährt sich der Mensch im Laufe der Zeit immer mehr als zersplittert und gibt so Raum zu Krankheiten, körperlicher wie seelischer Natur. Sondert sich der Mensch also von seiner ursprünglichen Bestimmung ab (auch in dem Wort Sünde steckt das Wort sondern, ab-sondern drin), dann beginnt seine Wesens-Natur zu zerfallen.

[9] xin: kann im chinesischen sowohl Zuversicht, als auch Glauben oder Glaubhaftigkeit bedeuten. Alle Nuancen klingen bei diesem zentralen Begriff in diesem Text wohl mit. Als praktizierender Daoist glaubt man an das Wirken des Dao. Durch diesen Glauben genährt gewinnt man Zuversicht für sein Streben danach. Besitzt man keine Glaubhaftigkeit, so erweist man sich dem Dao gegenüber als unwürdig.

[10] zheng: auch Geradheit, oder Aufrichtigkeit.

[11] Im chinesischen ist lehren und erziehen ein Wort.

[12] po: Der Teil der Seele, der dem physiologischen zugeordnet ist. Das physiologische, unsere Naturhafte Seite, entspricht sehr gut dem Begriff der Anima. Diese ist auf die Eindrücke der Geistseele angewiesen, welche sie wiederum durch ihre Begierden abhängig macht und versklavt. Durch die Geistseele werden also Eindrücke aufgenommen, die sich durch die Körperseele langsam durch die Macht der Gewohnheit zu Begierden entwickeln, und so unseren Charakter formen.

[13] hun: Der Teil der Seele, der dem psychologischen zugeordnet ist. Das psychologische, unsere Wesenhafte Seite entspricht sehr gut dem Begriff des Animus. Sie wird auch als Wanderseele bezeichnet, da sie bei Tag, von den Sinneseindrücken erregt, sich ständig über den Geist im Außen an den Sinnesobjekten verliert und überall neugierig herumwandert. In der Nacht verarbeitet sie in ihren Träumen das unter Tags er-fahrene (erwanderte), wodurch die Eindrücke sich langsam im Körper ablagern und so ein Teufelskreis der gegenseitigen Abhängigkeit und Unfreiheit zwischen Körper- und Geistseele entsteht, der, wenn nicht früh genug erkannt, den Menschen immer mehr fremdbestimmt (Körperseelenbestimmt, d.h. Gewohnheitsbestimmt bis hin zu Triebbestimmt) und langsam zerreißt. (vgl. hierzu auch Anmerkung 8)

[14] Deswegen treten die Fünf Wandlungsphasen als Yin und Yang in Erscheinung, als Werden und Vollenden (vgl. Anfang des Textes)

[15] Werden (Vor-himmlisch) und Vollenden (Nach-himmlisch) stehen beide in Harmonie und ergänzen sich gegenseitig.

[16] Vgl. Klassiker des Gelben Kaisers: Suwen, Kap. I. Bezeichnet die Geschlechtliche und Geistige Reife (d.h. beides ist voll entwickelt). Zweimal acht ist hier aber mehr symbolisch zu verstehen. In der Sprache der Inneren Alchemie taucht dieser Begriff im Cantongqi, dem ersten und von allen Schulen als wichtigstem anerkanntem Werk zur Inneren Alchemie zum ersten Mal auf. Früher wurde das chinesische Pfund in 16 Grundeinheiten unterteilt. Mit zweimal acht war das Maß sozusagen voll. Auch sind es 16 Tage bis zur Fülle des Mondes. So werden Yin und Yang symbolisiert, die zusammen die Eine Energie darstellen, die das Maß des Menschen vollenden.

[17] Die oft genannte Rückläufige Bewegung. Die Kräfte der Fünf Wandlungsphasen aus ihrer natürlich nach Außen fließenden und sich zerstreuenden Tendenz in Entgegengesetzter Richtung zurückbewegen. Die Kräfte der Fünf Wandlungsphasen haben alle ihren Ursprung im Herzen des Menschen. Über die Absichten entstehen Gedanken und die Gedanken werden zu Taten. So zerstreut der Mensch tagtäglich mit all seinen Absichten, Plänen und Begierden denen er nachgeht seine ursprüngliche, ihm vom Himmel anvertraute Lebenskraft nur zur Erfüllung seiner eigenen Wünsche. So wird er Opfer seiner eigenen Selbstverliebtheit, die z.B. auch schon Evagrius Pontikus (gest. 399), frühchristlicher Einsiedler in der Ägyptischen Wüste, als Grundübel des Menschen entlarvt hat. (Übrigens ist seine Anthropologie des Menschen mit der, wie sie Liu Yiming in diesem Text schildert ihrem Wesen nach sehr identisch. Bemerkenswert dabei ist, dass Werke des Evagrius schon im 5. Jahrhundert in Übersetzungen bis nach Turfan gelangt sind)

[18] Im Text befindet sich hier ein leerer Kreis

[19] Das ursprüngliche Herz, dass seinem Wesen nach ganz still und unbewegt ist, ist, sobald es mit Dingen von Außen über die Fünf Sinnesorgane in Berührung kommt, doch Augenblicklich offen und in direktem (ohne jegliche anderweitige Zwischenstation/Reibung) Kontakt (Verständnis) damit, bleibt aber doch unbeeinflusst davon. Kurz gesagt, im chinesischen ein wunderschöner und einfacher Satz, der nichts anderes beschreibt als die Fähigkeit des ursprünglichen Herzens zu wahrer, ungetrennter, intuitiver Erkenntnis.

[20] Das Dao.