Von Heiner Frühauf
National University of Natural Medicine, College of Classical Chinese Medicine

Aus dem Englischen übersetzt von Sepp Leeb

III. Angewandte Wissenschaft von den Symbolen: der Akupunkturpunkt tianfu (P3, LU3)

Neben dem allgemeinen Prozess der Benennung, wie er oben (siehe 1. Teil dieses Artikels in Chin Med 2002, Heft 1; S. 1-12) dargestellt wurde, enthüllen uns die Akupunkturpunkt-Namen eine noch tiefere und detailliertere Ebene der Symbolwissenschaft, mit der die Aufgaben der Funktionsbereiche genauer definiert werden. Als Beispiel für die mehrdimensionalen Bedeutungsfacetten, die in jedem Akupunkturpunkt-Namen enthalten sind, sei hier der dritte Punkt des Lungen-Funktionsbereichs herangezogen. Wie bei anderen Akupunkturpunkten wird auch bei tianfu eine bestimmte Stelle auf der Leitbahn mit funktionalen Aspekten in den Sphären des Himmels, der Erde und des sozialen Umfeldes des Menschen assoziiert. Die folgende Analyse zeigt am Beispiel von tianfu, wie ein Akupunkturpunkt mikrokosmische und makrokosmische Existenzebenen miteinander verbindet und wie das funktionelle und klinische Bedeutungsspektrum dieses Punktes in seiner ganzen Vielfalt deutlich wird, sobald wir uns eingehender mit den mehrdimensionalen Aspekten seines symbolischen Kodes befassen.

ALLGEMEINE ETYMOLOGIE

Tianfu ist der dritte Punkt auf der “Lungen”-Leitbahn und bringt somit die funktionelle Dynamik der Zahl drei zum Ausdruck. Es ist die Synthese, die auf der dritten Stufe des alchemistischen Prozesses herbeigeführt wird – das abstrakte Gold, das die konkreten Prozesse, die den materiellen Phänomenen der Welt Nahrung geben, in Gang hält. Die in drei Stufen erfolgende Umwandlung prä-nataler Energie in post-natale Materie ist seit der einprägsamsten Stelle des Dao De Jing die Grundlage der daoistischen Kosmologie: „Das Eine bringt die Zwei hervor, die Zwei bringt die Drei hervor, und die Drei bringt die Zehntausend Dinge hervor.“2 Zhongfu (P1, LU1) steht für die taiyin(yin maior)-Quelle im Zustand himmlischen Einsseins, in dem das Erz des Lungenmetalls noch im Schoß der Erde verborgen ist. Yunmen (P2, LU2) leitet an der Grenze zwischen bdquo;Lungen“-Himmel und „Milz“-Erde das Hervortreten des Lungen-Qi in Form des Erde/Metall-Amalgams ein. Tianfu (P3, LU3) schließlich repräsentiert die taiyin-Essenz in ihrem reinen Metall-Zustand, in dem sie am Kaiserhof für zeremonielle Zwecke verwendet werden kann und das Reich rituell mit der Aussicht auf materiellen Wohlstand durchdringt oder in dem es auf den Markt gebracht werden kann und auf diese Weise dem System ganz direkt zirkulierende Reichtümer zuführt.

Schließlich ist Metall (Geld) die substanziellste aller Substanzen. Es ist die kompakteste und schwerste Handelsware, und als Beispiel für die Fähigkeit der post-natalen Essenz, sich in jede beliebige Art von Körpersubstanz zu verwandeln, kann es für den Tausch gegen jede Art von Handelsgut verwendet werden. Wie der Regen hat es seinen Ursprung im Himmel – als das natürlich auftretende Metall, das sich in Meteoriten findet, oder als das Erz, das in den Bergen abgebaut und dann alchemistisch weiterverarbeitet wird. Deshalb ist tianfu der Sitz des Himmlischen Metalls, wo die „Lunge“ endlich ihre eigentliche Ausprägung findet, genauso, wie zhongfu (P1, LU1) die Schatzkammer des Mittleren Caloriums ist und tianfu (LU3) die Schatzkammer des Oberen Caloriums.

Unter den zahlreichen Konnotationen von tian (Himmel) steht der Zusammenhang des Ideogramms mit der Sonne besonders im Vordergrund – hoch, voll sichtbar und repräsentativ für die einzigartige Macht des königlichen Hofes. Während Eins für die Unteilbarkeit eines unsichtbaren Inneren stand und Zwei für den Übergang von innen nach außen, repräsentiert Drei das Stadium voll ausgebildeten Ausströmens. An diesem Punkt hat das Qi des taiyin (yin maior) eine vollständige Synthese seiner Erd- und Metallaspekte erreicht, sodass es sich wieder als Eines bewegen kann, wenn auch diesmal auf die pompösere, oberflächenorientiertere Art, die für die Wandlungsphase Metall charakteristisch ist. An der Stelle von tianfu tritt der Qi-Fluss des Körpers zum ersten Mal in Gestalt eines tastbaren Pulses an die Oberfläche. Je weiter man dem Verlauf der „Lungen“-Leitbahn folgt, desto deutlicher lässt sich dieser Puls tasten. Bei chize (P5, LU5) nimmt er weiter Gestalt an, bei lieque (P7, LU7) und jingqu (P8, LU8) tritt er noch stärker an die Oberfläche und kommt schließlich bei taiyuan (P9, LU9), dem f. originalis („Punkt, wo das Ur-Qi erreicht werden kann“), ganz heraus. Beim diagnostischen Verfahren der Pulstastung geht es daher in erster Linie darum, mit dem taiyin(yin maior)-Fluss des Körpers in Berührung zu kommen. Während sich mit der diagnostischen Betrachtung ganzheitliche Informationen über die konstellierende Kraft shen eines Menschen erschließen lassen, gibt die Pulsuntersuchung Aufschluss über den Zustand des post-natalen Qi des Körpers und, darin widergespiegelt, auch über den Zustand des ganzen Organismus.

Der Begriff fu weist auf die Funktion des Sammelns materieller Substanzen an einem zentralen Ort hin. Zu Zeiten des Neijing waren die zwei wichtigsten Bedeutungen des Wortes fu „Lagerhaus für materielle Substanzen“ und „zentrales Hauptquartier, in dem sich alle Regierungsbeamten treffen“. Im Fall von tianfu entspricht diese Aktivität auf einer abstrakten Ebene der symbolischen Vereinigung von Macht am königlichen Hof und auf einer konkreteren Ebene der Aufbewahrung zeremonieller Gegenstände im Ahnentempel oder dem Ausstellen von Waren auf einem großen Markt. Ein fu ist somit eine räumliche und funktionale Einheit, die dem Zweck dient, die taiyin-Funktion zu erfüllen, nämlich innerhalb des Mikrokosmos der menschlichen Gesellschaft materielle Essenzen zu verarbeiten, zu lagern und mit ihnen Handel zu treiben. Die in einem fu angehäuften Dinge wurden zwar auf der niedrigeren Schicht von taiyin-Erde hergestellt, aber sobald sie dort gelagert werden, steigen sie auf die erhabene Ausstellungshallen-Ebene von taiyin-Metall auf.

Auch wenn es im menschlichen Körper viele Stellen gibt, die als fu bezeichnet werden, ist der Hauptversammlungsort, an dem alle Funktionsbereichs-Beamten an einer zentralen und hervorgehobenen Stelle zusammenkommen, der Brustkorb. Das ist einer der Gründe, weshalb die maßgebliche Neijing-Passage über die zwölf Beamten des Körpers in ihrer Schilderung eines anthropomorphen Funktionsbereich-Hofes die in der Brust lokalisierten Funktionsbereiche an erster und zweiter Stelle aufführt und das „Herz“ als Kaiser und die „Lunge“ als Premierminister einsetzt.3 Des weiteren gilt die Brust als Sitz des „Ahnen-Qi“ (qi genuinum, zong qi), das definiert wird als Amalgam aus dem inneren, vom „Milz“-Funktionsbereich bereitgestellten „Getreide-Qi“ (qi frumentarium, gu qi) und dem äußeren, aus der Luft gewonnenen Qi, das die Lunge von außen hereinholt. Noch genauer heißt es vom „Ahnen-Qi“ (qi genuinum, zong qi), dass es sich an der zentralsten Stelle der Brust sammelt, nämlich dem Mittelpunkt des Sternums, der sowohl als Mittleres Dantian (zhong dantian) wie als der Akupunkturpunkt tanzhong (RS17, KG17) bekannt ist.

„Ahnen-Qi“ (qi genuinum, zong qi)verkörpert natürlich die regenerative Kraft von post-natalem Qi des taiyin (yin maior). Während das Brust-Zentrum das amalgamierte Endprodukt des „Ahnen-Qi“ kontrolliert, scheint zhongfu (P1, LU1) – die Schatzkammer der aus dem Innern gewonnenen Substanzen – ganz dezidiert für den irdischen „Getreide-Qi“-Aspekt des „Ahnen-Qi“ zuständig zu sein. Entsprechend ist tianfu (P3, LU3) – die Schatzkammer der von außen hereingeholten Substanzen – dafür zuständig, das taiyin-Amalgam zu vervollkommnen, indem er es mit der Aura himmlischen Leuchtens erfüllt. Yunmen (P2, LU2) ist demzufolge das „Atemtor“, das die Atmung ermöglicht, und tianfu (P3, LU3) ist das „Luft-Lagerhaus“, in dem himmlische Geister aus dem Äther extrahiert werden, um die Funken sprühende Eigenschaft von taiyin zu erzeugen.

Eine andere Nuance des Begriffs tianfu, welche die Bedeutung Talent hat, bringt die Oberflächenqualität von himmlischem Metall noch stärker zum Ausdruck. In vielen Sprachen, darunter auch im Chinesischen, Englischen und Deutschen, bezeichnet Talent sowohl die natürliche Begabung mit Intelligenz als auch eine Maßeinheit für Metall oder Geld. Generell geht die Zurschaustellung von Talent mit einer angeborenen Schärfe der Sinne einher. Die meisten Sinnesorgane des Körpers befinden sich im Kopf – eine weitere himmlische Position im menschlichen Mikrokosmos – und werden deshalb als himmlische Beamte (tianguan) bezeichnet. Sind die Sinne „geschärft und glänzend“ (congming)4, können die Talente eines Menschen in ihren ganzen Pracht erstrahlen. Sind dagegen die himmlischen Lichter verdeckt, werden die Talente stumpf und matt. Als Angelpunkt der Himmlischen Begabung und als Versammlungsort der Himmlischen Beamten weist tianfu deshalb einen starken Bezug zu den Sinnen und zum Glanzaspekt der Wandlungsphase Metall auf. Die expliziteren physischen und emotionalen Verästelungen dieses Zusammenhangs werden in den Abschnitten über Funktion und Pathologie eingehender erläutert.

HIMMEL

In der Han-Zeit gab es am Himmel zwei Sternbilder, die wahlweise tianfu genannt wurden. Beide sind aufgrund ihres Orts, ihrer Form und ihrer Rolle am Himmel als eindeutige Gegenstücke zu ihrem mikrokosmischen Pendant, dem Akupunkturpunkt P3 (LU3), erkennbar. Das erste von ihnen, die Gang-Konstellation, befindet sich innerhalb der himmlischen Figur des Blau-Grünen Drachen am Östlichen Himmel und liegt als zweite Konstellation des Drachen fast genau der Bi-Konstellation gegenüber, welche die dritte Formation des Weißen Tigers im Westen ist und mit Regen und mit dem Abwärtsschwung von taiyin assoziiert wird und vom vorangehenden Punkt, yunmen (P2, LU2), verkörpert wird. Gang ist wörtlich der Hals des Drachen und wird als solcher treffender mit den aufsteigenden, kreativen Aspekten der Zirkulation post-nataler Essenzen in Zusammenhang gebracht. Von der benachbarten Fang-Konstellation, der Brust des Drachen, heißt es ausdrücklich, dass sie „das Tor für die Hervorbringung der Zehntausend Dinge“ ist.5 Dieses Bild weist noch einmal verstärkt auf die durch die Zahl Drei angezeigte kreative Kapazität hin, die das Leitmotiv von tianfu (P3, LU3) ist. Die Zehntausend Phänomene der materiellen Welt werden nämlich von der Drei hervorgebracht und am Leben gehalten.

Die vier Sterne, die das Zentrum der Gang-Formation bilden, wurden mit einem Hof verglichen, insbesondere mit dem Hof des Ahnentempels, dem königlichen Haushalt oder dem offiziellen Gerichtsplatz. Deshalb wurden sie auch Ahnentempel (shumiao) genannt.6Zu seinem Schutz ist dieser Himmlische Hof von Sternen umgeben, die militärische Aufgaben innehatten; es handelte sich bei ihnen um verschiedene Arten von Soldaten, die sowohl für die schützenden als auch für die tötenden Eigenschaften der Wandlungsphase Metall stehen. Einer Primärquelle zufolge, die zu Zeiten des Neijing astronomische Phänomene deutete, liegt „der zentrale Oberbefehl über die Vier Meere“7 in den Händen dieser Konstellation. Im irdischen Bereich sind die Vier Meere die vier großen Ozeane, die den alten Chinesen bekannt waren. Entsprechend kommen auch im Mikrokosmos des Körpers Vier Meere vor, die im Neijing als das Meer des Wassers, das Meer des Getreides, das Meer des Qi und das Meer des Blutes (Xue) bezeichnet werden. Sie alle beziehen sich auf unterschiedliche Phasen von taiyin-Metabolismus und -Verteilung und schließen in erster Linie den „Magen“- und den „Lungen“-Funktionsbereich ein. Von der Gang-Konstellation heißt es außerdem, dass sie epidemische Krankheiten kontrolliert,8 was sich besonders im Bereich der Pathologie als äußerst wichtig erweisen wird.

Wei constellation

Wei Himmelskonstellation

Die zweite Himmelskonstellation mit Namen tianfu ist tianshi, der Himmlische Markt, auch changcheng (Große Mauer) genannt. Da der definierende Teil des Schriftzeichens für Lunge (fei) auch als Markt (shi) gelesen werden kann und der „Lungen“-Funktionsbereich „die Instanz ist, die wie ein Markt wirkt“ (indem er die Materialien für post-natale Lebenserhaltung verteilt), könnte tianshi auch „die Himmlische Lunge“ heißen. Es ist kein Zufall, dass in der mit dem Akupunkturpunkt zhongfu (P1, LU1) assoziierten Wei(„Magen“)-Konstellation, die auch ein deutliches Bild der „Lunge“ am Himmel enthält, der himmlische Kontext die „Lunge“ als Teil des „Magens“ darstellt. Dagegen wird hier „Lungen“-Metall als das Element beschrieben, das sowohl auf dem Himmlischen Markt wie am Himmlischen Hof vorherrschend ist. Dieser Sachverhalt findet sich auch in der Akupunkturdynamik des Körpers widergespiegelt, wo zhongfu (P1, LU1) für Metall im Schoß der Erde steht, während tianfu (P3, LU3) das gereifte Metall als solare Besonderheit verkörpert.

Tianshit

Himmelskonstellation mit Namen tianfu ist tianshi, der Himmlische Markt, auch changcheng (Große Mauer) genannt

Besondere Beachtung verdient hier der Umstand, dass die Tianshi-Konstellation aus zweiundzwanzig Sternen besteht; jeweils elf Sterne bilden zwei Halbkreise um einen in der Mitte gelegenen Hof – genau so, wie die jeweils elf Punkte auf der Lungenleitbahn auf den Armen ihr in der Mitte liegendes Mutterorgan umgeben. Im Mittelpunkt der Konstellation residiert der Einzelstern „Kaiserlicher Sitz“ (dizuo), bekannt als „der äußere Diwan des Himmlischen Kaisers“,9 der von mehreren Staatsministern und den Formationen Ahnenmann (zongren) und Ahnenrechtschaffenheit (zongzheng) begleitet wird. Jeder Stern des umgebenden Kreises ist nach einem Staat des prä-dynastischen China benannt. Gemeinsam bilden sie ein Bild des „Reiches unter dem Himmel“ (tianxia), ein Begriff, mit dem die alten Chinesen die Dimension des Lebens auf der Erde beschrieben. Die ganze Konfiguration, heißt es, „steht für die Macht der Behörde, die für das Wiegen von Dingen [wie zum Beispiel im Gericht oder auf einem Markt] und das Versammeln einer Menschenmenge zuständig ist … sie ist verantwortlich für Angelegenheiten in Zusammenhang mit der Vollstreckung eines Todesurteils durch Enthaupten oder Erstechen.“10 Jedes dieser Attribute – Autorität, Verurteilung und Tötung – ist ein eindeutiges Merkmal der Wandlungsphase Metall.

Der Aufbau des Himmlischen Marktes spiegelt nicht nur die politische Wirklichkeit des prä-dynastischen China wider, sondern hebt auch sehr deutlich das Wesen der gouverneurähnlichen Stellung hervor, welche die „Lunge“ gegenüber den anderen Funktionsbereichen des Körpers einnimmt. Auch wenn alle Funktionsbereichs-Länder ihr eigenes Territorium besetzen und ihre eigene kulturelle Identität wahren, schließen sich dennoch alle unter einer gemeinsamen dynastischen Flagge zusammen. Besonders in der formativen Phase der Neijing-Konzepte, die gegen Ende der Zhou-Dynastie (740-221 v. Chr.) anzusiedeln ist, hatte das Phänomen dynastischer Herrschaft in erster Linie zeremonielle Bedeutung. Infolge des an späterer Stelle zu besprechenden Tianfu-Amtes fiel dem kaiserlichen Hof die Aufgabe zu, einerseits das rituelle Band mit der anzestralen, Legitimität verleihenden Abstammung der Dynastie aufrecht zu erhalten und zugleich als designierter Vermittler himmlischer Wahrheit (dao) sowie als die irdische Manifestation himmlischer Tugend (de) aufzutreten.

Deshalb zeigt sich hier wieder einmal die taiyin-Dialektik der Umkehrung himmlischer und irdischer Positionen. Im Verlauf der gesamten „Milz“-Leitbahn, die die Heranreifungsphase der Wandlungsphase Metall abbildet, wird das taiyin-Bemühen als ein demütiger, erdartiger Dienst an dem noch unsichtbaren hohen Hof der Metallherrschaft dargestellt. Hat dieser Prozess einmal den Punkt erreicht, an dem der Kaiser tatsächlich genügend herangereift ist, um „herauszukommen“, „Hof zu halten“ und seine zeremonielle Macht zur Schau zu stellen, muss sich der Metall/Himmel-Aspekt unverzüglich in eine dienende Stellung hinabbegeben, die von ganz oben nach unten reicht. Das heißt, der vorbildliche Herrscher muss die Einsicht verkörpern, dass die kaiserliche Abstammung keine persönliche Leistung oder Errungenschaft ist, sondern ein Geschenk des Himmels. Er wird sich bewusst, dass aristokratische Souveränität wie ein Talent ist – nicht dafür gedacht, die Person des erhabenen Herrschers zu preisen, sondern sie auszuüben und zum Wohl aller Untertanen zu verteilen. Deshalb bittet der rechtschaffene Herrscher um die Unterstützung der Ahnen, damit alle davon profitieren; er leitet himmlische Botschaften weiter, damit alle davon profitieren; und er gestaltet sein Regierungszentrum nicht wie eine Schatzkammer, in der wertvolle Tributzahlungen gehortet werden, sondern wie einen Markt, auch hier wieder, damit alle davon profitieren.

ERDE

Auf einer irdischen Ebene stand der Begriff tianfu schon früh für die Vorstellung vom „Himmel auf Erden“. Er beschwört Bilder eines alten Shangrila herauf, eines zentral gelegenen Paradieses, das in allen vier Himmelsrichtungen von schönen Orten umgeben ist. Vom Himmel reich ausgestattet, wird tianfu (Ort, der mit himmlischer Ausstattung gesegnet ist) beschrieben als „das Land, in dem es fruchtbaren Boden, bestellbares Land, wohlhabende Menschen und prächtige Wagen im Überfluss gibt“.11 Abgesehen von seinen mythischen Konnotationen wurde tianfu speziell mit dem alten Land von Shu, jetzt Teil der Provinz Sichuan, in Verbindung gebracht. Bis zum heutigen Tag gilt Sichuan als das Gewächshaus Chinas, eine Region, in der Gemüse, Getreide und Kräuter in großer Menge und Vielfalt gedeihen. Diese extreme Fruchtbarkeit ist auf die Wolken und den Regen zurückzuführen, die wiederum eine Folge der nahen Berge des tibetanischen Hochlandes sind. Diese Berge, rein technisch gesehen die östlichen Ausläufer des Himalaya, liefern außerdem reichlich Wasser, das aufgestaut und für Bewässerungszwecke verwendet werden kann. In einer Quelle heißt es deshalb sogar, dass tianfu seinen paradiesischen Charakter der großen Bewässerungsanlage von Dujiangyan verdankt, die vor mehr als zweitausend Jahren gebaut wurde, um das ganze Sichuan-Tal kontinuierlich mit Wasser zu versorgen, und damals wie heute als eine der größten technischen Meisterleistungen des Altertums angesehen wurde.

Wo Wasser Fruchtbarkeit und Fülle bringt, birgt es auch die Gefahr, dass durch Wasser hervorgerufene Krankheiten entstehen. Sind zum Beispiel die Sommer zu heiß, steigt feuchte Hitze in die Atmosphäre auf und begünstigt die Entstehung von Pathogenen, die unter solchen Bedingungen gedeihen. Mücken, die Malaria übertragen, oder Mikroorganismen, die epidemische Krankheiten wie Enzephalitis oder Meningitis hervorrufen, können sich dann besonders stark verbreiten. Da das Sichuan-Tal von Bergen umgeben ist, ist es grundsätzlich vor negativen Einflüssen geschützt. Haben allerdings die marodierenden Horden in Gestalt von Pathogenen seine schützenden Mauern einmal durchbrochen, gestaltet es sich um so schwieriger, sie wieder zu vertreiben. Mit anderen Worten, das fruchtbare Sichuan-Becken lässt sich mit einer Schatzkammer vergleichen, die Diebe anlockt, die jedoch, sobald sie einmal in ihr Inneres eingedrungen sind, nicht mehr aus ihr entkommen können. Auf einer irdischen Ebene entspricht diese Situation dem Bild einer shaoyang(yang minor, „Gallenblasen“- und „Drei-Wärmebereiche“)-Pathologie: Auf der einen Seite haben wir es mit schwärenden stehenden Gewässern zu tun, die heftige Ausbrüche von lokalisierter Hitze begünstigen, auf der anderen mit virulenten Pathogenen, die im Innern eingeschlossen sind und die „Lunge“ angreifen und die durch gängige Oberflächenbehandlungen nicht ausgetrieben werden können.

MENSCH

Im Zhou Li („Riten der Zhou“) wird tianfu als einer der 360 Hofbeamten aufgeführt. Der Begriff bezieht sich sowohl auf einen Ort wie auf eine Funktion, nämlich auf die Schatzkammer des Ahnentempels am Herrscherhof sowie auf die Wächter, die den Tempel bewachen. Ähnlich anderen, als fu bezeichneten Ämtern ist tianfu ein Ort, an dem wertvolle Gegenstände aufbewahrt und verwaltet werden. Allerdings ist es ein Ort, dem besondere Bedeutung beikommt. Denn hier sind einunddreißig Verwalter beschäftigt, unter denen vier hohe Beamte sind, die den Titel eines fu-Beamten tragen, während andere fu-Ämter nur einen fu-Beamten haben. Tianfu ist das Lagerhaus Himmlischer Substanzen, in dem Gegenstände wie Zeremonialgeräte aus Metall und Jade aufbewahrt werden, die aus dem Himmel stammen, wie der Himmel sind und dazu benutzt werden, mit dem Himmel in Verbindung zu treten.

Tianfu wird als neunter Beamter im Ministerium der Riten aufgeführt (wörtlich Frühlingsministerium, chunguan). Neun ist die Quadratzahl von drei, das heißt, der Zahl des menschlichen Zustands – Himmel (Eins), Erde (Zwei) und Mensch (Drei). Drei ist sowohl ein Hinweis auf die Abstammung von Himmel und Erde wie auf das menschliche Mandat, den Kontakt mit unseren himmlischen und irdischen Eltern aufrecht zu erhalten. Darüber hinaus wird die Zahl neun im Neijing wiederholte Male zur Bezeichnung funktionaler Prozesse verwendet, die zum „Herz“ gehören, das „der Fürst und Herrscher der Funktionsbereiche“12 ist. Das tianfu-Amt, und im weiteren Sinn auch der tianfu-Punkt (P3, LU3), sind somit mit einem erheblichen Maß an kaiserlichem Nimbus ausgestattet. Wie wir bereits im Abschnitt über den Himmel gesehen haben, war die Rolle des Kaisers im prä-dynastischen China eindeutig als „der Kanal himmlischen Lichts“13 definiert. Der Kaiser war der Sohn des Himmels (tianzi); ähnlich dem ägyptischen Pharao repräsentierte er die anzestrale Verbindung der Menschheit zum Reich des Himmels und war dafür zuständig, das himmlische Mandat der Dynastie zu erneuern, indem er den Geistern der Ahnen regelmäßig Opfer brachte. Deshalb überrascht es nicht, dass tianfu sowohl auf der himmlischen wie auf der gesellschaftlichen Ebene ein Bild des Ahnentempels am königlichen Hof wiedergibt.

Mehrere traditionelle Kommentare zum Zhou Li weisen darauf hin, dass mit dem Begriff Ahnentempel (zumiao) der wichtigste der sieben dem Herrscher gehörenden Tempel bezeichnet wird, nämlich das Heiligtum des Ahnherrn der Dynastie.14 In der Zhou-Zeit war dieser Tempel ausdrücklich Hou Ji geweiht, dem Gründer der Zhou-Dynastie. Gerade im Kontext der taiyin-Dynamik sollte unbedingt berücksichtigt werden, dass beide Schriftzeichen im Namen Hou Jis eine starke Affinität zu Erde und Getreide haben. Außerdem heißt es, dass Hou Ji dem legendären Kaiser Shun als Landwirtschaftsminister diente, bevor er zum tammvater der Zhou wurde. Des weiteren gibt das Shuowen Jiezi als vollständige Bezeichnung für Ahne – shizu – „Ahnenlinie, die mit einer Frau begann“15, an. Daher ist der Ahnentempel eine Himmlische Schatzkammer mit taiyin-Eigenschaften – gefüllt mit glänzenden Gegenständen, die den Kontakt mit einem männlichen Vorfahren im Himmel ermöglichen, der in Wirklichkeit die dunkelhäutige Erdmutter in himmlischer Gestalt ist. Taiyin-„Milz“/Erde wird somit wieder einmal in ihrer Rolle als Himmel-als-Erde (Hexagramm 1, qian) bestätigt, während taiyin-„Lunge“/Metall die Situation Erde-im-Himmel (Hexagramm 11, tai) zum Ausdruck bringt.

Hexagramm 11

Hexagramm 11

Hexagramm 1

Hexagramm 1

Dem Ministerium der Riten obliegt ein breites Spektrum von rituellen Pflichten, darunter die Darbringung zeremonieller Opfergaben an die Himmlischen Geister (tianshen), an die Menschlichen Geister (rengui) und an die Irdischen Seelen (didi).16 Den tianfu-Beamten fällt besonders die Aufgabe zu, das Heiligtum des Ahnherrn der Dynastie, der als eine Synthese himmlischer und irdischer Kräfte dargestellt wird, zu bewachen und instand zu halten. Somit führt das tianfu-Amt als Teil der Geschichte, die in P3 (LU3) verschlüsselt wiedergegeben wird, zu einem besseren Verständnis des Konzepts vom Ahnen-Qi (qi genuinum, zongqi) in der chinesischen Medizin. Es beschreibt das Ahnen-Qi als das Endstadium der Fusion von Erde und Metall, in dem gewöhnlicher post-nataler Wein zu edlem, champagnerartigem Lebenselixier veredelt wird (indem minderwertigem Getreide-Qi das Prickeln von Luft-Qi beigefügt wird); in dem sich männliche und weibliche Aspekte zu der produktiven Union von Drei vereinen; in dem das Diener/Herrscher-taiji das Bewusstsein von der Einheit gebiert, in der jeder Aspekt des Systems Teil von etwas Größerem als es selbst ist; und in dem schließlich taiyin zu daiyin (Großes Yin) und tianyin (Himmlisches Yin) wird, das moralische Autorität, Rechtschaffenheit und das Versprechen eines anhaltenden Flusses lebensspendender Essenzen ausstrahlt.

Die tianfu-Schatzkammer enthält die wertvollste Sammlung des Landes an materiellen Gegenständen. Die meisten von ihnen sind königliche Erbstücke, die von früheren Vertretern des Herrschergeschlechts weitergegeben – „als Schenkung überlassen“ – wurden.17Deshalb ist eine der wichtigsten Aufgaben des Oberaufsehers des Tempels, ihn „gegen Eindringlinge zu beschützen“.18 Außerdem heißt es, dass der tianfu-Beamte „die Gegenstände, nachdem er sie gezeigt hat, unverzüglich wieder einschließt“.19 Schließlich ist der Ahnentempel das innere Heiligtum des königlichen Hofes, der seinerseits das innere Heiligtum des Staates darstellt. Werden seine Tore aufgebrochen und seine Schätze geplündert, lässt sich dies mit der Wirkung von Hitzeeinflüssen vergleichen, die den Frischwasserspeicher seines irdischen Namensvetters, des fruchtbaren Sichuan-Beckens, aufheizen und verunreinigen – wenn dieser Fall eintritt, bedeutet dies für das System als Ganzes den sicheren Ruin.

Trotz dieses nach innen orientierten Speicheraspekts zeichnet sich das tianfu-Amt in erster Linie durch seine nach außen gerichtete Dynamik aus. Man kann tianfu mit „veräußerlichende Schatzkammer“ oder „Amt für die Zurschaustellung gelagerter Gegenstände“ übersetzen, während zhongfu „verinnerlichende Schatzkammer“ oder „Amt für die innere Aufbewahrung gelagerter Gegenstände“ bedeutet. Tianfu ist eine Truhe für Zeremonialgegenstände, die ihrer Natur nach für die Zurschaustellung gedacht sind. Der feierliche Pomp einer rituellen Transaktion unterscheidet sich selbstverständlich grundlegend von der alltäglichen Präsentation gewöhnlicher Waren (zum Beispiel Nahrungsmittel) auf einem Markt. Die Zeremonien, bei denen die im Ahnentempel aufbewahrten Gegenstände verwendet werden, beschränken sich auf wichtige Opfer, Weissagungen und Begräbnisse und gehen stets mit einer rituellen Bestätigung des Ahnengeschlechts und damit auch der Legitimität des Lebens unter der Schirmherrschaft der Dynastie einher. Um so kostbarer die ausgestellten Gegenstände sind, um so mehr Würde, Bedeutung und Gültigkeit erhält diese Bestätigung. Der Inhalt von tianfu hat also dieselbe Funktion wie die Kronjuwelen des Landes. Wie die Kronjuwelen wurden die Dreifüße, Metallgefäße und Jadescheiben der Schatzkammer den größten Teil des Jahres sicher in ihrem Innern aufbewahrt, um nur bei ganz besonderen Anlässen in einer prunkvollen Demonstration der eigenen Macht hervorgeholt zu werden.

Dementsprechend ist der tianfu-Beamte nicht nur auf einer ganz elementaren Ebene für die Aufgaben „Bewachen“ und „Zur Schau stellen“ zuständig, sondern er muss auch „bei offiziellen Ausflügen mit den wichtigsten Gegenständen der Schatzkammer an der Seite des Königs reisen“.20 Wenn wir uns noch einmal den als tianfu bezeichneten Sternenkonstellationen zuwenden, stellen wir fest, dass sich diese extrovertierten Eigenschaft des tianfu-Amtes auch in seinen beiden himmlischen Pendants widergespiegelt findet. Tianshi, der Himmlische Markt, ist ein Abbild des auf seinem „äußeren Diwan“ Hof haltenden Königs, der sich mit Angelegenheiten außerhalb des Palastbezirks befasst. Gang, der Hals des Drachen, repräsentiert das dynamische Potential der zweiten Linie von Hexagramm 1, nämlich den Hals des sich nach draußen begebenden Drachen, der im Frühling über dem Horizont erscheint.21

Das Wechselspiel von Innen- und Außendynamik auf der tianfu-Ebene zeigt nur wieder einmal das integrative Potential der Zahl Drei. Die Drei ist die harmonische Union der polaren Aspekte von Yin und Yang; sie löst den Zustand der Trennung von Gegensätzen wie innen und außen, weiblich und männlich, Diener und Herr auf. Im Fall von tianfu ist das Innere innen, damit es außen sein kann, und das Äußere ist außen, damit es wieder innen sein kann. Diese vor allem diese Beziehungen berücksichtigende Herangehensweise lässt sich auch auf den zeitlichen Bereich und die Dichotomie von Vergangenheit und Zukunft anwenden. Das Konzept des Tempels impliziert die Verehrung eines Vorfahren, der in ferner Vergangenheit gelebt hat. Dieser Bezug zur Vergangenheit wird jedoch ausschließlich deshalb hergestellt, um für die Zukunft des gegenwärtigen Systems zu profitieren. Im Zhou Li heißt es, der tianfu-Beamte „führt die Weissagungen für das kommende Jahr im ersten Frühlingsmonat durch“.22 Dieser Hinweis verdeutlicht, warum tianfu als Angehöriger des Frühlingsministeriums gilt; er verkörpert nämlich den zukunftsorientierten Aspekt des Frühlings.

Weiter entwickelt wird das Thema der Einheit in einer Beziehung in der Feststellung, dass das tianfu-Amt auch „dafür zuständig ist, Verträge mit verbündeten Ländern sowie Gerichtsprotokolle aufzubewahren“.23 Schließlich heißt es, das Amt „nimmt die offiziellen Zahlen von Volkszählungen und Ernteertragsberechnungen auf und bewahrt sie auf“.24 Grundsätzlich bezeichnet tianfu also die rituelle Funktion, die (irdische) Getrenntheit wieder in den Zustand (himmlischer) Einheit zu bringen und die irdische Realität mit dem Mandat himmlischer Wahrheit zu durchdringen.

LAGE: DEPOT DE NASE

In Laozis Dao De Jing und anderen klassischen Texten findet sich der Begriff tianmen (Himmelstor) als daoistische Bezeichnung für die Nase. Die Nase ist die der „Lunge“ zugeordnete Körperöffnung, das Himmelsorgan des Körpers, und durch die Nasenlöcher nimmt die „Lunge“ das himmlische Qi auf und tritt mit ihm in Verbindung. Die meisten Akupunkturklassiker geben zur Bestimmung der genauen Lage von tianfu (P3, LU3) eine Methode an, bei der man „die Nasenspitze auf den gestreckten Arm senkt. Der Punkt befindet sich an der Stelle, wo die Nase den Arm berührt“.25 Dadurch werden die Nasenspitze (tianmen) und der Akupunkturpunkt (tianfu) auf ein und dieselbe Ebene gestellt, und die Vertiefung auf P3 (LU3) wird dann ganz von selbst ein „Depot“ (fu) für die „Lungen“öffnung. Außerdem kommt auf diese Weise die Nase in ein ausgewogenes Verhältnis mit yunmen (P2, LU2), der auf der irdischen Ebene mit dem Bild von Berghöhlen assoziiert wird, die als Nasenlöcher der Erdlunge fungieren. Und sogar am Himmel kann man ein solches Paar aus Nasentor und Nasendepot finden, denn dort gibt es in unmittelbarer Nachbarschaft der tianfu/gang-Konstellation zwei nasenlochartige Sterne mit Namen tianmen.

FUNKTION: WÄCHTER DES AHNENTEMPELS

Der mehrdimensionale Symbolismus des Begriffs tianfu vermittelt ein breites Spektrum an Informationen und zeichnet ein äußerst komplexes Bild der funktionellen Essenz des Punktes P3 (LU3). Die meisten Verknüpfungspunkte in diesem Netz von Bezügen weisen jedoch auf die Rolle der „Lunge“ als Wächterin des „Ahnen-Qi“ (qi genuinum, zongqi) hin, wobei hier wiederum ihre Hauptfunktionen darin bestehen, das „Ahnen-Qi“ aufzubewahren, zu behüten, auszustellen und (zu versprechen,) es in bestimmten Zeitabständen zu verteilen. Tianfu erweist sich somit als der Punkt, an dem die rituellen Attribute der Wandlungsphase Metall zu Hause sind: der Glanz der Autorität, die sich ganz bewusst bescheiden behauptet, nämlich durch die Tugenden Würde, Respekt und Integrität.

Tianfu ist die Stelle, wo das taiyin, das aus der Integration der „Gaben“ von Mutter Erde (guqi) und Vater Himmel (daqi) gewonnen wird, wie eine Ware gelagert und verwaltet wird. Er ist der Ort, wo taiyin-Essenz als eine materielle Realität Gestalt annimmt, um die „Untertanen“ des Körpers mit Nahrung zu versorgen. Als Schatzkammer des verfügbaren post-natalen Qi hat tianfu somit dieselben Funktionen wie seine makrokosmischen Pendants. Er steht für die bereitstellende Kraft, welche wie der Drache und der Markt am Himmel die Zehntausend Dinge nährt. Er gilt als das Reservoir der befruchtenden Essenz, das im irdischen Bereich ihr Gegenstück zum Beispiel im Dujiangyan-Bewässerungsprojekt im Sichuan-Becken hat, und er verkörpert die Macht der durch die Ahnenabstammung sanktionierten Autorität, wie wir sie im gesellschaftlichen Bereich vom tianfu-Beamten des Ministeriums der Riten kennen. Grundsätzlich zeigt also tianfu das Potential und das greifbare Versprechen der Anwesenheit von taiyin-Essenz an. Am Punkt P3 (LU3) wird diese Essenz noch nicht im Umlauf gebracht, sondern nur in ihrer höchsten Ausprägung gesammelt, sodass sie für ihre Verteilung nach unten bereit ist.

Wie auf der staatlichen, so sollte auch auf der physiologischen Ebene die Kraft und Pracht dieser „Gabe“ nur sparsam zum Ausdruck gebracht werden. Solange der Ahnentempel voll mit Schätzen ist, die von der Erde geerntet und unter dem Einfluss des Himmelsatems destilliert wurden, bleibt das Herrscherhaus von einem inneren Gefühl der Stärke, der Sicherheit und des Mandats durchdrungen. Ein ständiges Zur-Schau-Stellen dieser Schätze würde dieser Selbstsicherheit dagegen den Glanz nehmen. Tianfu verfügt, um ein zeitgemäßeres Beispiel anzuführen, über die Macht der Autorität, die kostbare Juwelen sowohl auf ihren Besitzer als auch auf das Auge des Betrachters ausüben. Tianfu verkörpert das ermächtigende Prinzip der Aristokratie – legitimiert durch die Abstammung und dokumentiert durch den Besitz kostbarer Erbstücke. So sind zum Beispiel die Kronjuwelen materielle Insignien der Herrschaft. Als solche werden sie an einem sicheren Ort aufbewahrt, um nur bei besonderen Anlässen gezeigt zu werden.

Schließlich verkörpert tianfu noch den „Metall/Richter“-Aspekt der „Lunge“, zu dem das kaiserliche Gefühl von Entschlossenheit, Würde und Selbstachtung gehört. Der Umstand, dass diesem Punkt eine starke Affinität zu den Sinnesorganen zu eigen ist, und zwar insbesondere zum höhergestellten Gesichtssinn, verstärkt nur noch das innere Verlangen nach Authentizität, das an dieser Stelle an die Oberfläche tritt und nur in der Umgebung einer reinen, nicht verschmutzten „Lunge“ gedeihen kann.

PATHOLOGIE: EINSTAUUNG VON FEUER

Trotz der zahlreichen Informationen über die Funktionen dieses Punkts setzen moderne Anwender P3 (LU3) in der klinischen Praxis selten ein. Der wichtigste Grund hierfür ist wieder einmal eine ausschließlich vorwärts gerichtete Vorstellung von Wissen, welche die technischen Fakten moderner Wissenschaft höher einschätzt als den Jahrtausende alten mythologischen Datenstrom aus symbolischen Hinweisen. Dieser Sachverhalt lässt sich sehr gut an modernen Akupunktur-Lehrbüchern ablesen, von denen sich die meisten bei der Aufzählung der P3-Indikationen auf „Husten und lokalisierte Schmerzen an der Innenseite des Oberarms“26 beschränken. Der vielschichtige funktionelle Symbolismus des Ahnenhofes hat also der strukturellen Sichtweise Platz gemacht, dass tianfu zur ashixue-Behandlung (Lokalschmerz) und, wie jeder andere Punkt der „Lungen“-Leitbahn, bei Atemnot eingesetzt werden kann. Weil alle Punkte der „Lungen“-Leitbahn als zur Behandlung von Hustensymptomen geeignet gelten, greifen moderne Anwender in der Regel bevorzugt auf die leichter zugänglichen und besser bekannten „Fünf Induktorien“ (wu shuxue) im unteren Teil des Arms zurück, und hier besonders auf chize (P5, LU5), lieque (P7, LU7) und taiyuan (P9, LU9).

Die Unart, auf jeder Leitbahn nur einige wenige besonders geläufige Punkte zu verwenden, ist in der TCM-Akupunktur zur gängigen Praxis geworden. Wie die klassische Phytotherapie hatte es sich jedoch auch die traditionelle Akupunktur-Wissenschaft einmal zum Ziel gesetzt, sowohl die allgemeinen als auch die konkreten Aspekte der Symptomatik eines Patienten anzugeben. Die Diagnose einer „Lungen“-Pathologie muss deshalb über den therapeutischen Richtwert „Lungenbehandlung“ hinausgehen und die komplexen Feinheiten des therapeutischen Ansatzes herausarbeiten. Andernfalls ist der klinische Prozess nicht in der Lage, seine komplexen wissenschaftlichen Ursprünge zu reflektieren.

Die klassische Akupunktur empfiehlt also bei der Behandlung der vielen möglichen Störungen der „Lungen“-Funktionen (wie zum Beispiel Husten, Asthma, verminderte Immunabwehr, Anfälligkeit gegen extreme Temperaturen, Klaustrophobie, Traurigkeit, Gefühle von Isolation und Wertlosigkeit, spirituelle Unreinheit, Zynismus, Eitelkeit usw.) nicht nur eine begrenzte Auswahl von Punkten. Vielmehr spezifiziert sie mithilfe ihrer symbolistischen Methodik sehr genau, welcher Punkt sich am besten für die Behandlung welchen Aspekts der „Lungen“-Pathologie eignet.

Die spezifischen Indikationen des Punktes tianfu (P3, LU3) scheinen sehr klar definiert. Aus der Perspektive der Physiologie des Punktes, mit der wir uns bereits oben befasst haben, ist die Primärindikation für seine therapeutische Anwendung ein Eindringen in den „Ahnenhof“ und die daraus resultierende Beeinträchtigung seiner vielfältigen Funktionen. Dieses Eindringen wird dann weiter spezifiziert als shaoyang (Dreifacher Erwärmer) oder shaoyin (Herz)-Feuer, das „Lunge“/Metall angreift. Besonders ausführlich befasst sich das Neijing mit P3 (LU3) im 74. Kapitel, wo es heißt, dass der an dieser Stelle getastete Puls der Hauptindikator für eine lebensbedrohende Pathologie der „Lunge“ ist, die durch ein Eindringen epidemischer shaoyang- und shaoyin-Pathogene ausgelöst wurde:

„Wenn shaoyang den Himmel beherrscht, nehmen Feuer-Pathogene überhand, und es werden epidemische Krankheiten auftreten. Als Folge davon wird die administrative Autorität der Wandlungsphase Metall beeinträchtigt. Deshalb leiden die Menschen in der Regel an Kopfschmerzen, begleitet von Fieber, Schüttelfrost und Malariaanfällen; oder an Hitzewallungen, begleitet von schmerzender Haut, wobei sich die Haut gelb und rot verfärbt und schließlich wassergefüllte Pusteln bildet; oder an Schwellungen und Ödemen der Körperoberfläche; oder an abdominellen Blähungen mit Atembeschwerden; oder an Diarrhö mit Spuren von Blut und Eiter; oder an Karbunkeln; oder an Husten mit blutigem Auswurf; oder an kardialer Unruhe und Hitzegefühlen in der Brust. Ist diese Art von Pathologie stark ausgeprägt, kommt es zu Nasenbluten. Die Wurzel dieser Krankheit ist in der „Lunge“. Wenn an tianfu (P3, LU3) der Puls verschwindet, wird der Patient sterben und sollte nicht behandelt werden.“27

„Wenn sich shaoyin [Feuer] [an Metall] rächt, kommt es zu Symptomen wie innere Hitze, Rastlosigkeit, Karbunkel, Niesen und Bauchkrämpfe … Ist die Erkrankung ernster, dringt sie in die „Lunge“ ein, und dort zeigen sich dann Anzeichen von Husten und Sinusitiden. Wenn an tianfu (P3, LU3) der Puls verschwindet, wird der Patient sterben und sollte nicht behandelt werden.“28

Diese erstaunlich detaillierte Ätiologie von tianfu geht aus den Schriftzeichen hervor, aus denen sich sein Name zusammensetzt. Laut der symbolistischen chinesischen Konvention vereinigt tian (Himmel) die Merkmale von yang (Yang), huo (Feuer) und re (Hitze) in sich. Feuer und Hitze wiederum gelten als shaoyang- und shaoyin-Eigenschaften. Der Begriff fu bezeichnet einen Behälter, der „wie der Himmel funktioniert und deshalb die Dinge weiterleitet, ohne sie zurückzuhalten“.29 In einem pathologischen Kontext kann tianfu daher mit „Lagerhaus eingeschlossener Hitze“ oder „Feuereinstauung“ übersetzt werden.

Diese Sichtweise wird durch das pathologische Potential der makrokosmischen Gegenstücke des Akupunkturpunktes P3 (LU3) bestätigt. Die irdische tianfu-Region (auf der Erde), nämlich das fruchtbare, aber isolierte Sichuan-Becken, ist seit altersher für seine Neigung zu Feuchte/Hitze-Epidemien bekannt, die vor allem im Frühling (shaoyang) und Sommer (shaoyin) ausbrechen. Des Weiteren führt das Zhou Li den königlichen Hofbeamten tianfu als einen Vertreter des Ministeriums der Riten (chunguan) auf, für das die wörtliche Übersetzung „Frühlingsministerium“ lautet.

Noch ausführlicher beschreibt schließlich die tianfu-Konstellation am Himmel die näheren Umstände eines potentiellen Eindringens von Feuer in den Metall-Hof. Die tianfu-Sterne werden traditionsgemäß mit der Ausbreitung einer „epidemischen Krankheit“30 assoziiert, die aus der Sicht der chinesischen Medizin immer mit dem Eindringen von Feuer-Pathogenen in die „Lunge“ einhergeht. Von den vier Sternen im Mittelpunkt dieses himmlischen Hofes heißt es, dass sie von Sternenwächtern beschützt werden, die ganz besonders das Yang-Tor (yangmen) bewachen. Dieses Sternentor befindet sich unterhalb des Hofes und weist somit darauf hin, dass potentielle Eindringlinge in das innere Metall-Heiligtum üblicherweise von unten her, aus der Richtung des Feuers, eindringen.

In Anspielung auf den Hals der Konstellation Blau-Grüner Drache an Chinas östlichem Himmel wurde die tianfu-Gruppe auch als Gang (der Hals) bezeichnet. Selbstverständlich besteht ein Bezug zwischen dieser Konstellation und der menschlichen Kehle, die wiederum traditionsgemäß mit der „Lunge“ in Verbindung gebracht wird. Die chinesische Medizin beschreibt die Kehle/den Hals als eine der Yang-Pforten des Körpers, einen engen Durchlass, durch den alle Yang-Leitbahnen passieren müssen und an dem sich Feuer-Pathogene symptomatisch zu manifestieren pflegen. Wenn Feuer-Pathogene die „Lunge“ angreifen und durch diese wichtige Pforte nach oben durchbrechen, dringen sie buchstäblich in den Kopf ein. Epidemische Fieber neigen tatsächlich dazu, die Sinnes-Öffnungen zu affizieren und das Bewusstsein zu trüben.

Die symbolische Bedeutung von tianfu geht also weit über die Indikation einer Metall-Pathologie hinaus und sogar über die spezifischere Pathologie von Feuer, das in Metall eindringt. Sie ist ihrem Wesen nach extrem präzise, denn sie empfiehlt tianfu ausdrücklich für die Behandlung einer beeinträchtigten „Lunge“, die von Feuer angegriffen wird und ihre Bedrängnis speziell in Form extremer Hitzesymptome in der Kehle, den Körperöffnungen des Kopfes und den mentalen Fähigkeiten zum Ausdruck bringt.

Aus prä-modernen Texten geht hervor, dass die symbolistische Tradition innerhalb der klassischen Akupunktur bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zumindest noch zum Teil intakt war. Das medizinische Werk Zhenjiu Dacheng (Kompendium der Akupunktur und Moxibustion) aus dem frühen 17. Jahrhundert, das häufig als die umfangreichste Sammlung alten Wissens über die Akumoxi-Therapie angesehen wird, unterteilt die Indikationen von P3 (LU3) in vier Kategorien, welche alle die oben genannten „mythologischen“ Angaben bestätigen: 1. „Lungen“-Pathologie („asthmoide Atmung“); 2. Feuer, das in Metall eindringt („Tuberkulose und plötzliche lokalisierte Armschmerzen in der Umgebung von P3 (LU3); 3. shaoyang-Symptome („Malaria mit Symptomen von abwechselnden Kälte- und Hitzewallungen und Fieber, verschwommene Sicht, getrübte Sicht weit entfernter Gegenstände und geschwollene Lymphknoten am Hals“); 4. übermäßiges Feuer, das den Kopf befällt, Störungen in den Körperöffnungen („Bluten in Nase oder Mund“) und Beeinträchtigungen der geistigen Fähigkeiten („geistige Abwesenheit, Reden wie bei Besessenheit, Weinen und Schluchzen“).31

 

 

 

 

Marginalien:

1 Symbolwissenschaft am Beispiel des Akupunkturpunktes tianfu P3
2 Die Symbolik von Eins, Zwei und Drei als Stufen der Umwandlung pränataler in postnataler Materie
3 Zur Pulstastung auf der “Lungen”-Leitbahn
4 Die Brust als Hauptversammlungsort der Beamten im Körper und als Sitz des “Ahnen-Qi” (qi genuinum, zongqi)
5 Tianfu als Talent
6 Zwei Sternbilder mit Namen tianfu
7 Die Vier Meere im Makro- und Mikrokosmos
8 Analogie der Tianshi-Sternkonstellation zu den 11 Punkten der “Lungen”-Leitbahn
9 Zum Phänomen dynastischer Herrschaft
10 Tianfu und das Gebiet Shu im heutigen Sichuan
11 Tianfu als Schatzkammer des Ahnentempels und als deren Wächter
12 Erläuterungen zum Ahnentempel der Zhou
13 Zum “Ahnen-Qi” (qi genuinum, zongqi)
14 Nach außen gerichtete Dynamik des tianfu-Amtes
15 Weitere Beispiele zum Wechselspiel von Innen- und Außenaspekten
16 Tianfu und die Nase als Körperöffnung der “Lunge”
17 Physiologische Zusammenhänge
18 Erläuterungen zur Macht der Autorität anhand des Beispiels von Kronjuwelen
19 Zur seltenen Anwendung des Akupunkturpunktes tianfu P3 in der heutigen klinischen Praxis
20 Differenzierte Indikationen von P3 in der klassischen Akupunktur
21 Zitate aus den Neijing
22 Erläuterungen zur Ätiologie
23 Bezüge zur menschlichen Kehle
24 Bestätigung der obigen “mythologischen” Angaben durch die “Summe der Aku-Moxi-Therapie” (Zhenjiu dacheng) von Yang Jizhou

Zusammenfassung:
Unter Symbolwissenschaft versteht der Autor das Verfahren, jedes Piktogramm, das körperliche Funktionen beschreibt, als einen mehrdimensionalen “Bedeutungskristall“ zu verstehen und als solchen zu untersuchen. Diese Methode hat er auf die medizinischen Klassiker und vor-Han-zeitliche Schriften angewendet und so einen reichen Schatz an medizinisch relevanten Informationen erhalten. Im ersten Teil seiner Ausführungen hatte er mit diesem Verfahren vor allem die Piktogramme fei (“Lunge”), jin (“Metall”) und taiyin (“Yin maior”) untersucht.
Im folgenden zweiten Teil analysiert er die mehrdimensionalen Bedeutungsfacetten der Akupunkturpunkt-Namen am Beispiel des Punktes tianfu P3 (LU3).

Mit tianfu wird somit eine bestimmte Stelle auf der “Lungen”-Leitbahn mit funktionalen Aspekten in den Sphären des Himmels, der Erde und des sozialen Umfeldes des Menschen assoziiert. Auf diese Weise werden mikrokosmische und makrokosmische Existenzebenen, nämlich die Ebenen von Himmel, Erde und Mensch, miteinander verbunden, wodurch das funktionelle und klinische Bedeutungsspektrum dieses Punktes in seiner ganzen Vielfalt deutlich wird. Aus dem weiten Spektrum der symbolischen Konnotationen zu tianfu destilliert der Autor klare physiologische und pathologische Zusammenhänge heraus, die sich anhand von Zitaten aus klassischen Werken wie dem Neijing oder dem Zhenjiu dacheng (“Summe der Aku-Moxi-Therapie”, von Yang Jizhou) bestätigen lassen. Weiterhin stellt er die Mehrdimensionalität und Differenziertheit einer derart ausgeleuchteten klassischen Akupunktur der Eindimensionalität und Beschränktheit der modernen TCM-Akupunktur gegenüber.

Dieser Artikel wurde ursprünglich in Chinesische Medizin, Nummer 2/2002, publiziert.